Moderne Neurologie und Ayurveda
- Dr. Sandeep D. Nair, MD (Ay), MSc FNR
- 23. Juni
- 3 Min. Lesezeit
Integrierte Medizin als Zukunftsperspektive für das Gesundheitssystem: Eine Symbiose zwischen moderner Neurologie und traditionellem Ayurveda
Eine Behandlung, die ein Symptom kuriert und gleichzeitig ein anderes hervorruft, stellt keine reine oder adäquate Therapie dar. Eine reine Behandlung beseitigt die Erkrankung, ohne neue Beschwerden zu verursachen – dies entspricht dem Konzept der „Shuddha Chikitsa“ im Ayurveda. Inzwischen erkennt auch die moderne Medizin zunehmend den Wert ayurvedischer Weisheiten, weshalb die Integration unterschiedlicher Medizinsysteme weltweit an Bedeutung gewinnt.
Komplementärmedizinische Forschung kann auf unterschiedliche Weise erfolgen:
durch Kombination pharmakologischer Mittel und therapeutischer Verfahren aus zwei verschiedenen Medizinsystemen,
durch Integration der Behandlungsprinzipien eines Systems in ein anderes,
durch den begleitenden Einsatz eines Medizinsystems neben einem etablierten Ansatz oder
durch die Kombination all dieser Ansätze.
Unabhängig von der Herangehensweise bleibt der Patient stets das zentrale Element. Rogers und Sheaff[1] betonen: „Die Legitimation integrierter Versorgungssysteme liegt in der Erfüllung der Bedürfnisse der Patienten, nicht in denen der Leistungserbringer.“ (Rogers & Sheaff, 2000, S. 53)
Organisationen, die den Patienten nicht in den Mittelpunkt ihrer Integrationsbestrebungen stellen, werden voraussichtlich nicht erfolgreich sein. Integrierte Versorgungssysteme sollten für Patienten gut zugänglich und verständlich gestaltet sein. Die Aufrechterhaltung dieses Patientenfokus stellt jedoch eine Herausforderung für integrierte Systeme dar.
In unserer Abteilung arbeiten Neurologie- und Ayurveda-Ärzte nahtlos zusammen und verkörpern so ein authentisch integratives Modell der Komplementärmedizin. Unser Engagement für eine patientenzentrierte Integration gewährleistet eine umfassende, ganzheitliche Betreuung.
Trotz umfangreicher Empfehlungen, die unter anderem Pathyahara (Ernährung) und Vihara (Lebensstil) einschließen, erleben die Patient:innen ein Gefühl der Selbstbestimmung statt Bevormundung. Sie schätzen die Möglichkeit, aktiv an ihrem Therapieprozess mitzuwirken und dadurch zu Symptomlinderung und allgemeinem Wohlbefinden beizutragen.
Durch die Anwendung eines integrativen Ansatzes bieten wir unseren Patient:innen ein erweitertes therapeutisches Spektrum, das einen individualisierten und effektiveren Heilungsprozess ermöglicht. Diese Synergie zwischen moderner Neurologie und traditioneller ayurvedischer Weisheit verdeutlicht die Zukunft einer patientenzentrierten Gesundheitsversorgung.
Die Erfolge in der Behandlung von Parkinson-Patient:innen
Vergleichende Bewertungen ayurvedischer und konventioneller Behandlungsverfahren stellten anfänglich eine Herausforderung hinsichtlich der Wirksamkeitsevaluation dar. Längsschnittbeobachtungen zeigten jedoch, dass die Integration ayurvedischer Maßnahmen bei Parkinson-Patient:innen zu einer verbesserten Stabilität und Lebensqualität führte.
Die Patient:innen zeigten eine verbesserte Gangstabilität, eine verlangsamte Progression motorischer Symptome, eine Linderung nicht-motorischer Beschwerden sowie eine nachhaltige Umstellung auf eine gesunde Ernährung und einen gesundheitsfördernden Lebensstil. In mehreren Fällen konnte ein Stillstand oder eine deutliche Verzögerung der Krankheitsprogression beobachtet werden. Zudem war eine Reduktion der Levodopa-Dosierung bei jenen Patient:innen möglich, die über drei bis fünf Jahre hinweg ayurvedische Ernährungstherapien und Lebensstilinterventionen umsetzten.
Das einzigartige Modell der Abteilung für Neurologie und Komplementärmedizin
Die Klinik für Neurologie und Komplementärmedizin in Deutschland wurde 2009 von Univ.-Prof. Dr. med. Horst Przuntek und Dr. med. Sandra Szymanski gegründet – gefolgt von Dr. med. Anita Mackowiak, Dr. Sunilkumar VG und Dr. Sandeep Nair, die den Wert eines integrativen medizinischen Ansatzes frühzeitig erkannten. Seit dem Ruhestand von Prof. Przuntek im Jahr 2021 leitet Dr. Szymanski die Einrichtung.
Unsere Abteilung ist spezialisiert auf die Behandlung von Bewegungsstörungen, insbesondere Morbus Parkinson und Multiple Sklerose. Die Gründung einer integrierten Abteilung für diese Krankheitsbilder war die visionäre Idee von Univ.-Prof. Dr. med. Horst Przuntek, einem renommierten Neurologen und ehemaligen Ordinarius an der Ruhr-Universität Bochum. Er veröffentlichte über 750 begutachtete wissenschaftliche Arbeiten.
Die Abteilung für Neurologie und Komplementärmedizin am Evangelischen Krankenhaus ist seit 2009 als Parkinson-Spezialklinik von der Deutschen Parkinson Gesellschaft anerkannt und verfügt über 20-30 Betten. Das interdisziplinäre Team setzt sich zusammen aus einem leitenden Neurologen, zwei Oberärzten für Neurologie, zwei Ayurveda-Ärzten, neurologischen Assistenzärzten, erfahrenen Ayurveda-Therapeut:innen, spezialisierten Pflegefachkräften, Ergo- und Physiotherapeut:innen, Logopäd:innen sowie klinischen Psycholog:innen, die eng abgestimmt zusammenarbeiten.
Die Patientenversorgung erfolgt im Rahmen eines dualen Therapieansatzes. Tägliche gemeinsame Visiten ermöglichen fortlaufende Beurteilungen durch Neurolog:innen und Ayurveda-Mediziner:innen gleichermaßen. Wöchentliche interdisziplinäre Fallbesprechungen erlauben eine detaillierte Bewertung des Therapieverlaufs. Ayurvedische Behandlungsprotokolle – bestehend aus externen Anwendungen, inneren Medikamentengaben und diätetischen Maßnahmen – werden individuell auf Grundlage traditioneller Parameter wie Tridosha, Dhatus, Koshta, Agni und Ama erstellt. Die Therapien werden von geschulten Ayurveda-Therapeut:innen unter ärztlicher Aufsicht durchgeführt, unter strenger Beachtung der deutschen Hygienestandards.
Weiterhin profitieren die Patient:innen von ayurvedischer Ernährungsberatung durch eine zertifizierte Diätassistentin, die wöchentliche Schulungen durchführt. Ayurveda-Ärzte geben individuelle Empfehlungen zu Ernährung und Lebensstil. Elemente wie Yogatherapie ergänzen das integrative Gesamtkonzept.
Dieser einzigartige Ansatz basiert auf einem multiprofessionellen Therapiemodell, in dem konventionelle neurologische Verfahren (inklusive Pharmakotherapie, Logopädie, Physio- und Ergotherapie) mit Ayurveda-Interventionen (u. a. Panchakarma-Therapie, Innere Kräuterformeln, ayurvedische Diätetik, Yoga und Meditation) zu einem umfassenden, individuellen Behandlungsplan zusammengeführt werden.
Gesundheit als dynamische Integration
Ayurveda ist das Resultat jahrhundertelanger Weiterentwicklung eines wissenschaftlich fundierten Gesundheitssystems. Es vereint Prinzipien, Theorien und Lebensregeln, die Gesundheit nicht nur erhalten, sondern gezielt fördern. Denn Gesundheit ist kein statischer Zustand – sie ist eine dynamische Integration von Umwelt, Körper, Geist und Seele.
Prävention beginnt also nicht erst mit der Diagnose, sondern idealerweise bei der Geburt.
[1] Rogers A, Sheaff R. Formal and informal systems of primary healthcare in an integrated system: evidence from the United Kingdom. Healthcare Papers. 2000 Spring;1(2):47–58; discussion 104–7. doi: 10.12927/hcpap.2000.17218. PMID: 12811065.