Ayurveda beim Reizdarm
- HP Elmar Stapelfeldt M.A.
- 29. Mai
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 30. Mai
Ayurveda ist ein Medizinsystem, das sich über Jahrtausende entwickelt hat – aus der Erfahrung bei der Behandlung von nahezu unzähligen Patient:innen. Die Aufspaltung und Verstoffwechselung unserer Nahrung bildete für die Ayurveda-Medizin seit jeher einen besonderen Fokus. Wenn man sich vor Augen führt, dass alles, was wir essen, schließlich zu uns selbst – also zu unseren Geweben, Zellen und Organen – wird und dass wir einen Großteil der Energie für sämtliche Funktionen unseres Körpers aus der Nahrungsverarbeitung generieren, ist dies leicht verständlich.

Um die komplexen Verdauungsprozesse möglichst leicht nachvollziehbar zu machen, hat der Ayurveda eine einfache Metapher gewählt – agni, das Verdauungsfeuer. Agni ist nicht stofflich – also z.B. über das Konzept von Enzymen – zu verstehen, sondern ist eine Art Kraft, die sämtliche Aufspaltungs- und Stoffwechselprozesse steuert. Wenn agni nicht richtig funktioniert oder überlastet ist, zeigt sich dies anhand von Verdauungsbeschwerden: Schwere- und Völlegefühl nach der Nahrungsaufnahme, Aufstoßen, Durchfall, Verstopfung, Blähungen oder Bauchschmerzen. Man könnte sagen, dass diese Beschwerden Überforderungssignale des Verdauungsfeuers sind.
In der modernen Medizin stellt man bei derartigen Verdauungssymptomen die Diagnose „Reizdarm“ oder „Reizmagen“, sofern sie sich nicht auf eine andere Ursache zurückführen lassen und somit rein funktionell sind – also ohne nachweißliche Gewebeveränderungen der Verdauungsorgane. Hiervon sind heutzutage sehr viele Menschen betroffen, denn ein großer Prozentsatz von Hausarztbesuchen steht mit diesen Beschwerden im Zusammenhang. Das durch den Reizdarm verursachte Leid wird in der Gesellschaft sehr unterschätzt. Für viele Betroffene ist die Einschränkung der Lebensqualität durch Reizdarmbeschwerden immens.
Der Ansatz zur Linderung dieser Beschwerden bezieht sich in der Ayurveda-Medizin zu allererst auf die Entlastung und Stabilisierung des Verdauungsfeuers agni. Dies gelingt vor allem über die Ernährungstherapie. Drei Hauptansätze haben sich hierbei als wirksam erwiesen: 1. warme Mahlzeiten (also wenig Brot, Salat und kühlschrankkalte Speisen und Getränke); 2. regelmässige Mahlzeiten (morgens nur so viel wie nötig, mittags die Hauptmahlzeit und abends früh, warm und leicht) und 3. leicht verdauliche, aber nahrhafte Speisen (in einem für das Verdauungsfeuer angemessenen Maß mit wenig schwer verdaulichen Nahrungsmitteln wie Fleisch, Wurst, Eis, Frittiertes u.ä., aber mit vielen pflanzliche Eiweißen und gesunden Fetten).
In der Hochschulambulanz für Naturheilkunde der Charité-Universitätsmedizin Berlin hat sich dieser Ansatz als so hilfreich erwiesen, dass ein Team um Prof. Andreas Michalsen von 2017 bis 2019 eine klinische Studie zur Ayurveda-Ernährung bei Reizdarmbeschwerden durchgeführt hat. Dabei wurden die drei genannten Ansätze (warm, regelmäßig und leicht verdaulich) den Teilnehmer:innen in drei ernährungstherapeutischen Sitzungen praxisnah vermittelt. Zusätzlich zu dieser sog. allgemeinen Ayurveda-Ernährungstherapie wurden spezifische Empfehlungen individuell je nach vorherrschendem Beschwerdebild (Durchfall, Verstopfung, Gasbildung bzw. Schmerzen) gegeben. Anhand eines international anerkannten wissenschaftlichen Fragebogens (IBS-SSS) wurde nach drei Monaten beobachtet, dass sich die Symptome von einem Beschwerdegrad von 270 Punkten auf 150 Punkte reduzierten. Bei den Beratungen wurde deutlich, dass das Ausmaß der Umsetzung der ayurvedischen Empfehlungen ziemlich genau mit dem Grad der Beschwerdeentlastung korreliert. Es ist also von entscheidender Bedeutung, die Patient:innen maximal zu motivieren und zu unterstützen, die Empfehlungen auch in die Tat umzusetzen.
Tatsächlich spielt bei der ayurvedischen Behandlung von Verdauungsbeschwerden die Ernährung die Hauptrolle und führt in den meisten Fällen zu einer zufriedenstellenden Beschwerdelinderung. Sollte dies nicht der Fall sein, so steht in der Ayurveda-Medizin eine ganze Palette weiterer Therapieoptionen zur Verfügung. Mittels Heilpflanzen (inkl. Gewürzen) lässt sich das Verdauungsfeuer kräftigen wie z.B. mit Ingwer. Aber auch spezifische Verdauungsbeschwerden können durch den gezielten Einsatz von Heilpflanzen gelindert werden, wie z.B. durch die blähungstreibende und entkrampfende Wirkung von Kreuzkümmel, Stinkasant (Hing) oder Königskümmelsamen. Regelmäßig durchgeführte Yoga-Übungen (die „Yoga-Geste“, „die Befreiung des Windes“ u.a.) lösen Schmerzen und Krämpfe im Darm sowie Verstopfungen. Ölklistiere (40ml Sesamöl zur Nacht) befeuchten den Darm und lösen Gase oder Verstopfungen. Ölmassagen und Stirnölgüsse sorgen für eine Tiefenentspannung des Gemüts und auch der glatten Muskulatur. Und schließlich Atemübungen (wie die „Wechselatmung“ und die „Yogische Tiefenatmung“) und Meditation lösen emotionalen Stress oder Ängste, die oft im Hintergrund von Verdauungsbeschwerden eine Rolle spielen. Diese und viele weitere Verfahren der Ayurveda-Medizin und der Yoga-Therapie werden nach eine ausführlichen Anamnese und Untersuchung durch den Ayurveda-Spezialisten individuell eingesetzt und führen zu Synergieeffekten.
Doch kehren wir noch einmal zum Ausgangspunkt zurück – zum Verdauungsfeuer agni. Dieses Konzept stellt für viele Betroffene eine hilfreiche Alternative zu modernen Betrachtungsweisen dar, welche allesamt auf einem molekularbiologischen Denkmodell fußen. In diesen Ansätzen ist es üblich, vermeintlich unverträgliche Moleküle (z.B. Histamin, Gluten, Laktose, Fruktose) für Reizdarmbeschwerden verantwortlich zu machen und diese vom Speisenzettel konsequent zu streichen. In vielen Fällen führt dies bei den Betroffenen jedoch zu Verunsicherung und Ängsten in Bezug auf das Essen und nur selten zu einer umsetzbaren Ernährungsweise, die die Beschwerden tatsächlich zu lindern vermag. Der ayurvedische Ansatz hingegen besteht darin, mithilfe einer Regulierung des Verdauungsfeuers, Nahrungsmittel wieder besser verträglich zu machen. Selbst wenn der Vergleich kindlich klingt, können sich die meisten Menschen gut eine Kraft im Zentrum ihres Körpers vorstellen, die die Mahlzeiten zerkleinert und die Bestandteile in Körpergewebe umwandelt. Wenn die Mahlzeit zu schwer war, entstehen Verdauungsbeschwerden, wenn man sich gemäß den Bedürfnissen seines Feuers ernährt, schwinden sie. Durch eigenes Zutun lässt sich somit spürbar auf das Verdauungsfeuer einwirken.
Eine agni-gemäße Ernährung hat zusätzliche Vorteile. Die Aufspaltung und Verarbeitung unserer Nahrung im Körper verbraucht kostbare Energie. Wenn diese durch eine leichte, warme Ernährungsweise eingespart wird, kann sie der Körper nach seiner eigenen Intelligenz für die Linderung von Symptomen und für den Zuwachs an Lebensenergie nutzen. Ein weiterer Vorteil einer agni-gemäßen Ernährung liegt in der Tatsache, dass sie die optimale Versorgung unserer Gewebe mit den notwendigen Nährstoffen gewährleistet, die Bioverfügbarkeit dieser Nährsubstanzen verbessert und dadurch mittelfristig zu einem guten allgemeinen Gesundheitszustand führt.
Nehmen Sie also Ihre Reizdarmbeschwerden als Signal dafür, dass Ihr Verdauungsfeuer überlastet ist und lassen Sie sich durch eine agni-gemäße Ernährung zu einem Zustand mit weniger Beschwerden und mehr Gesundheit und Lebensqualität führen.